05 November 2010 in Gondar / Äthiopien
Tom und ich wachen an diesem Morgen fast zeitgleich. Gegen 07:30 Uhr lokaler Zeit starten wir den neuen Tag in Gonder. Ich habe nicht gut geschlafen. Die Wasserleitungen geben kein Wasser mehr, was ich in der bewegten Nacht schon feststellen konnte und die Informationen des Personals machen keine Hoffnung auf schnelle Optimierung der Situation. Ich entdecke einen großen Wassereimer unter dem Waschbecken und kann mich mit dieser Reserve um meine Morgenwäsche kümmern. Es gelingt mir sogar, für Tom ebenfalls etwas Wasser übrig zu lassen.
Das Hotel Terara in Gondar ist eine Nummer. Es liegt über dem Zentrum der Stadt, etwa 5 Minuten Gehzeit und es hat definitiv schon bessere Tage erlebt. Ich bezweifele, dass es je Schlechtere gesehen hat. Dabei ist es sympathisch und hat enormes Potential. Das Personal ist sehr nett und die Räumlichkeiten, sowie der Außenbereich einladend und groß, sodass ich den Verfall mit gemischten Gefühlen betrachte. Gestern und Jetzt ist es für mich das „Hotel California“ …“such a lovely place.“ Wir sind die einzigen Europäer in dem Etablissement. Dafür stehen fünf große äthiopische Trucks vor der Tür und in der spärlich besetzten Hotelbar konnte ich gestern beobachten, wie sich Pärchen näher kamen, intime Deals aushandelten und anschließend auf die Zimmer verschwanden. Unser Hotel ist ein Insidertip für Äthiopische und Sudanesische Fernfahrer, so scheint es mir und dies würde weitere Beobachtungen in diesem Hotel erklären. Lediglich eine Antwort auf das Wasserproblem, hätte ich noch nicht erhalten.
Ich setze mich in die Morgensonne in den Parkähnlichen Hotelbereich und beginne mit den Blogbeiträgen der letzten Tage. Es ist einiges Geschehen und die letzten Etappen hätten jede für sich, eine besondere Erwähnung verdient. Ich bin mit meinem Geschriebenen nicht zufrieden, aber als Tagebuchnotizen kann ich sie gelten lassen und habe nun wieder Zeit für Kaffee und Gespräche. Die Gruppe zerfällt. Ariel, Cezar und Jakub, meine drei Freunde aus Polen, sowie Tom Jelly verlassen Gondar in Richtung Norden. James möchte in den Süden und nur Veronica und Andy, sowie ich selbst, bleiben für einen weiteren Tag hier vor Ort. Wir verabschieden uns herzlich, machen noch ein paar Fotos, dann bin ich alleine im „Hotel California“ Gute Reise, viel Glück und Gesundheit – An Euch Alle.
Ich möchte die Stadt erkunden. Ich trage meinen Laptop bei mir, alle Zahlungsmittel die mir zur Verfügung stehen und das Badische Fuhrmannshemd von Frau Lickert aus Breitnau. Mein erster Weg führt mich zur Bank in der ich Geld abhebe, da der Automat an der Tür nicht geht. Dann bin ich erleichtert und frei. Cezar meinte noch vor kurzem, dass ich wohl der einzige Reisende sei, der noch mit Travellerschecks unterwegs ist. Aber ich war im Sudan darauf angewiesen und auch hier in Äthiopien sind sie eine sichere „Alternative“. Heute komme ich mit der Visa Card weiter. Ich schlendere an einem Gebäude vorbei, dass ich gestern als Mission gedeutet habe, überlege ob ich reinschaue. Ein Mann an der Straße rät mir davon ab. Warum eigentlich? Und ich schlendere weiter. Ich laufe zu Burg, einem faszinierenden Steinbauwerk aus alten Tagen und komme durch einen Nebeneingang zu einem runden, christlichen Gebäude. Hier empfängt mich eine andere Welt. Herrschen draußen vor den Steinmauern, reges Treiben, Verkehr und Geräusche, so ist es hier drinnen, ruhig, entspannend und still. Sitzgelegenheiten im Schatten laden zum Verweilen ein. Ich setze mich und betrachte meine Umgebung. Eine besondere Ruhe überkommt mich, ich fühle Energie in meinen Körper strömen und da ich diesen Zustand nicht unterbrechen möchte, entspanne ich mich und lehne mich zurück. Ein rundes Gebäude vor mir, scheint eine Kirche zu sein. Kreuze und Christusbilder schmücken mit Farben die Wände, ich sehe Opferkästchen und einen Bettler, der um das Gebäude herumpilgert und an jeder Tür stehen bleibt und betet.
Maria sieht mich an – dieses christliche Motiv überstrahlt hier alle anderen Bilder. Es ist die Mutter Maria mit dem Säugling auf dem Schoß. Ich lächele. Hier bemerke ich die „Mutter“ zum ersten Male auf meiner Pilgerreise. Bin ich doch bisher in Afrika, durch Islamische Länder gewandert und da herrscht nunmal der Vater Abrahams. Dennoch grüßt mich hier die Mutter und ich freue mich an ihr und nehme dankbar die Kraft auf, die mir dieser Ort gibt. Ich verspreche ihr und mir, wieder zu kommen.
Gestärkt mache ich mich wieder auf den Weg. Ich möchte Essen und gehe zu dem Restaurant von Gestern. Ich setze mich kurz vor die Tür in die Sonne und betrachte das Treiben auf der Straße. Die erste Begegnung ist eine alte Frau in Lumpen, die mir einen Zettel mit Telefonnummer zeigt und mir erklärt, dass sie 10 Cent für einen Anruf möchte. Sie ist in Begleitung ihrer ebenfalls verlumpten Familie, ihrem Mann, der Tochter und dem maximal zwei Monate altem Enkelkind. Ich winke ab und schicke sie fort. Ich kann mich nicht verstehen und das Bild des Säuglings in Lumpen nagt in mir. Eine zweite Begegnung die folgt, geht mir noch mehr unter die Haut. Ich knabbere noch an meiner Hartherzigkeit, als mir eine weitere Frau in Lumpen ins Auge fällt. Sie hat das Gesicht mit gelben Zeichen und Symbolen übermalt, blickt aus stechenden Augen zu mir rüber und trägt ihre Lumpen wie eine Ausgestoßene. Auch die Äthiopier blicken dieser seltsamen Erscheinung nach. Hinter einem Fahrzeug wechselt sie die Straßenseite und ich sehe sie plötzlich mir gegenüber, auf der anderen Seite an der Mauer sitzen. Sie blickt mich an und mir wird kalt. Einem Impuls folgend würde ich nun gerne von meiner Stelle verschwinden – diese Augen, diese Male. Ich kämpfe dagegen an, bleibe sitzen und grüße jeden mit einem Lächeln, der an mir vorbei geht. In Gedanken und mit meinen Blicken bleibe ich bei der Frau und dem Phänomen auf der anderen Straßenseite. Ich habe gewonnen, die Frau steht nach einer Weile wieder auf, kommt auf meine Seite, bleibt in einem Abstand stehen und ihre Augen sind nun fragend. Ich fühle mich besser, die Kälte ist weg und ich signalisiere ihr, dass ich nichts zu sagen hätte. Sie verschwindet, während ich und andere Menschen ihr nachblicken. Ich bin von mir enttäuscht. Keine Stunde zuvor, habe ich zur Mutter gebetet und Kraft bei ihr getankt. Nun habe ich sie zweimal abgewiesen.
Ich esse Reis und Gemüse, eine Suppe und trinke dazu eine Cola. Dieses Menü kostet mich umgerechnet drei Euro, dann verlasse ich gestärkt und immer noch in Gedanken über meine Begegnungen das Restaurant und mache mich auf den Weg in ein Internetkaffee. Ich lade meine Beiträge hoch, schreibe Emails und bezahle anschließend für die zweieinhalb Stunden etwa 2 Euro. Mein Laptop hat kein Strom mehr und ich gehe zurück in das Hotel, um die Netzkabel zu holen und um eventuell zu duschen. Es gibt immer noch kein Wasser. Somit habe ich nun fünf Tage keine Dusche mehr gehabt – das sind Sorgen. Ich packe meine Kabel ein, eruiere das Wasserproblem mit dem Hotelmanager und tue bei ihm meinen Unmut kund. Dann gehe ich wieder in die Straßen Gondars, um ein Busticket nach Addis Abeba zu erstehen und mir die Haare schneiden zu lassen. Das Busticket kostet mich knapp 18 Euro und ich erfahre, dass ich Sonntagmorgen um 04:30 Uhr von Gondar abfahre. Eine schwere Prüfung für meine innere Uhr.
Ein „Student“ führt mich zu einem Friseur bei dem ich mit einer Maschine Vollgeschoren werde. Den Schnitt, den er mir zuvor auf einem verblichenen Poster an der Wand gezeigt hatte, sah wesentlich anders aus. Ich sehe die Katastrophe mit offenen Augen kommen, bin sprachlos als die Maschine mir alle Haare nimmt. Wenigstens habe ich jetzt einen Pilgerhaarschnitt und auch weniger Angriffsfläche für Insekten und noch kleinere Lebewesen. Ich bedanke mich bei meinem Friseur, lobe ihn überschwenglich für sein Kundstwerk, dann zieht es mich noch einmal in ein Internetkaffee, bevor ich gegen 23:00 Uhr mein Hotel aufsuche, das Moskitonetz aufspanne und nach einer weiteren Katzenwäsche mit dem Wassereimer, nachdenklich und beeindruckt einschlafe.
Ja Mutter, heute brauchst Du nicht stolz auf Deinen Sohn zu sein.