Meine Abreise beginnt früh und mit schlechtem Gewissen.
In der Nacht ist mir in dem Badezimmer der Deckel des Spülkasten zu Bruch gegangen, als ich beim Duschen abrutsche und meinen Ellenbogen zur Landung dort platziere. Nun am folgenden Morgen, begutachte ich das Malheur und gehe die möglichen Szenarien durch, die mich erwarten.
Stelle ich mich und melde den Schaden? Dann wird es nichts mit einer frühen Abreise. Das Personal müsste die Chefin rufen und wir auf sie warten. Bisher sah ich sie meistens am Mittag. Auch würde es mich Bargeld kosten, wahrscheinlich mehr als die Kosten für die Reparatur im Anschluss tatsächlich sind. Und genau mit diesem Cash Flow muss ich heute haushalten, denn ich benötige eine Visa für Guinea, brauche unzählige Gelder für Taxis und ich plane, anschließend mit der Fähre ein zweites Mal nach Ziniguichor zu fahren, um dort Bonaventura das Schulgeld für seine Tochter zu geben.
Gehe ich, ohne etwas zu sagen? Dies wäre ein sehr dunkler Schatten über meiner Reise und würde mich wie einen Dieb davonstehlen lassen.
Ich vertage das Problem und frühstücke erst einmal auf meinem Zimmer. Es ist kurz nach sieben Uhr. Hinterher bin ich nicht schlauer. Ich nehme mir vor für den Schaden gerade zu stehen, wofür habe ich denn eine Haftpflichtversicherung? Aber ich beschließe auch, dass ich in dieser Sache erst agiere, wenn ich aus dem Senegal raus bin. Ich mache ein paar Bilder von dem Riss des Deckels, dann dusche ich, packe meinen Koffer und checke an der Rezeption aus.
Der Rezeptionist ist nett, ruft mir ein Taxi und sucht uns anschließend noch die Adresse zur Botschaft Guineas in Dakar aus dem Internet raus. Ich fühle mich tatsächlich wie ein davonschleichender Dieb.
Nachdem ich aus meinem Hotel in Dakar aus gecheckt habe, lasse ich mich zur Botschaft Guineas fahren. Der Taxifahrer kennt den Standort nicht genau. Aus diesem Grunde fängt er irgendwann an, andere Fahrer nach dem Weg zu fragen, dies jedoch ohne im Morgenverkehr anzuhalten. Ich hatte dies, ähnlich vor Jahren, schon in Kairo erlebt und nehme es gelassen hin. Letztendlich erreichen wir unser Ziel, anders als damals in Kairo.
Die Botschaft ist gut besucht, es herrscht ein großer Andrang, aber ich werde zügig in ein separates Zimmer geführt, wo ich den Fragebogen der Botschaft ausfülle und der Mitarbeiter mir einige Fragen stellt. Als ich nach dem Preis frage, glaube ich zuerst, mich verhört zu haben. Er will fast hundert Euro, wenn ich das Visa heute noch möchte und sechzig für den folgenden Tag. Er meint, dass seien die Preise für Express und Normal.
Ich will nicht länger in Dakar verweilen, möchte einfach nur weiter, aber diese Preise für ein so armseliges Land sind horrend. Ich erbitte Bedenkzeit und frage nach dem nächsten Geldautomaten, denn so oder so, ich brauche heute viel Bargeld.
Der Beamte erklärt mir den Weg zur nächsten Bank und dann bin ich auch schon in den Straßen Dakars. Die Bank gibt mir kein Geld auf meine Master Card und ich frage nach der nächsten Möglichkeit in der Umgebung. Leider geben auch die Automaten Nummer 2,3,4 und 5, bei anderen Banken kein Geld, entweder weil meine PIN falsch eingegeben ist (was ich besser weiß) oder es kommt eine andere Begründung als Ablehnung, statt der gewünschten Auszahlung.
Ich checke in meinen Unterlagen die PIN, welche stimmt und suche ein Restaurant, Hotel oder Café, in dem ich online meinen Kontostand überprüfen könnte. Im Bankenviertel scheint es keines davon zu geben. Nun schwitze ich nicht mehr wegen der Hitze, es ist die Sorge, erneut irgendwelchen Geldern hinterherrennen zu müssen.
Abdul, ein Angestellter des Hotels, aus dem ich heute Morgen mit schlechtem Gewissen abgereist bin, läuft mir in der Nähe der Botschaft über den Weg und erkennt mich. Welch ein Zufall? Dakar hat 1,2 Millionen Einwohner und mir läuft ein bekanntes Gesicht, an seinem freien Tag, so wie er sagt, über den Weg. Aber warum sollte das Schicksal mich nicht auch einmal für einen Fehler rügen? Bisher waren es immer glückliche Fügungen, die mir aufgefallen sind, weil sie so zufällig und passend daherkamen. Nun erdrückt mich mein schlechtes Gewissen.
Abdul bringt mich freundlicherweise zu einer Bank, bei der ich Geld für meine Kreditkarte erhalte. Danach lade ich ihn zu einer Cola ein. Wir gehen in einen vergitterten Laden, erstehen die kühlen Getränke und er fragt mich, ob ich ihm umgerechnet 150 Euro leihen kann. Die würden ihm fehlen, um Reis zu kaufen. Nun werde ich hellhörig.
Er hätte für 250 Euro Reis bestellt, so erzählt er mir, würde nur über hundert Euro verfügen und da der Reis für das Hotel bestimmt ist, könnten wir anschließend gemeinsam dorthin fahren, und ich bekomme meinen Zwischenkredit zurück.
Also doch kein Zufall. Reis für 250 Euro, dies im Senegal? Wir bräuchten einen LKW, kein Taxi.
Ich biete ihm Geld für das Taxi zum Hotel an, damit er die Sache allein regeln könne, aber dies würde zeitlich nicht mehr passen, erklärt er mir, danach hätte der Reisverkäufer schon geschlossen. Es müsste jetzt geschehen. Ein Reisverkäufer, der an einem Montagmorgen nur drei Stunden geöffnet hat und sich den Quartalsumsatz dadurch versauen lässt?
Lieber Abdul, liebes Panafricaine, ich verspreche Euch, dass ich für die tatsächlichen Kosten der Reparatur aufkommen werde. Ich habe es ja auch verbockt. Aber das Drehbuch Eurer Rückholaktion war schlicht unglaubwürdig und ebenso verlogen, wie ich es an jenem Morgen war. Wahrscheinlich hätte eine schlichte Ansprache genügt, mein Gewissen hätte den Rest erledigt. Und 150 Euro für diesen Deckel? Da wäre immer noch genügend Geld für Reis übrig.
Ich blicke Abdul an und sage ihm, dass ich ihm nicht traue und ihm auch kein Geld geben werde. Er bleibt hartnäckig, jedoch ohne Erfolg. Pampig schickt er mich weg und ich nehme das Angebot gerne an. Nun habe ich zusätzlich des schlechten Gewissens noch eine begründete Paranoia. Sie werden einen Plan B aushecken, so denke ich mir.
In der Botschaft von Guinea lasse ich meinen Unmut an dem bestechlichen Beamten aus. Innerhalb von fünf Minuten hat er meine Visa ausgestellt und unterschrieben. Diesen Aufwand nennt er Express und möchte 40 Euro extra dafür. Mit Sicherheit wird diese Summe in keinem Buch des Landes Guinea verzeichnet werden. Ich erlaube es mir, ihn auf das Übelste zu Beschimpfen und da er kaum reagiert, bin ich mir seiner Korruption auch sicher. Mein kurzes Gewitter erträgt er leichtfertig, wohlwissend, dass mein Geld ihm Lohn genug dafür sein wird.
Ich schwitze, als ich anschließend mit meinem Gepäck durch die Straßen ziehe und nach einem Taxi Ausschau halte. Was mache ich nun? Das Hotelpersonal wird mich am Busbahnhof suchen, denn von dort komme ich mit meinem frisch erstandenen Visa am Ehesten nach Guinea. Was sie nicht wissen, ist, dass ich eigentlich erst noch einmal nach Ziniguichor möchte, um dort das Schulgeld von Madeleine abzugeben und um noch einmal bequem mit der Fähre zu reisen, bevor ich unzählige Stunden in den Bussen Afrikas verbringe.
Ein Taxi bringt mich durch den morgendlichen Stau an den Hafen, wo ich leider erfahre, dass heute keine Fähre zu meinem Ziel ablegt. Also doch Guinea? Ich frage einen Taxifahrer, ob ich denn für diese lange Strecke noch einen Bus bekomme. Er glaubt es nicht, aber Minibusse würden noch fahren. Erneut durch den Stau, dann bin ich in einer Straße, die von Leben nur so wimmelt. Unzählige Straßenverschläge mit allerlei Waren zum Verkauf. Frauen, die auf Holzbänken sitzend Gemüse schälen, Ingwer putzen oder in schmutzigem Wasser Wäsche waschen. Männer gelangweilt auf Bänken oder Plastikstühlen dazwischen. In einem Labyrinth dahinter, aus weiteren Verschlägen, in denen Menschen harte Arbeit verrichten oder müde auf Matten liegen gehe ich auf die Toilette. Es macht mir kaum noch etwas aus, dafür in die Hocke zu gehen.
In einer Garage erstehe ich mein Ticket für einen Minibus nach Conakry in Guinea. Er soll um 19:00 Uhr fahren und nach einem Blick auf die Uhr, stelle ich mit Erschrecken fest, dass es erst kurz nach 12 Uhr mittags ist. Sieben Stunden soll ich warten? In diesem Molloch, ohne Schatten und mit diesen unzähligen Menschen? Aber ich will auch keine Zeit mehr im Senegal verlieren. Ich möchte weiter. In meinem Hotel in Agadir in Marokko, habe ich mir ein deutschsprachiges Buch genommen, welches dort für diesen Zweck auslag. Dafür habe ich den Unendlichen Plan von Isabella Allende hingelegt. Es ist Acqua Alta, der fünfte Fall von Brunetti in Venedig, dem Romanhelden von Dona Leon.
Ich ziehe durch die Straßen von Dakar und entdecke ein Restaurant mit einer ansehnlichen Toilette. Dies ist mir wichtig, denn ich möchte so leer wie möglich sein, ehe ich auf langer Reise unterwegs bin. Das Essen ist schmackhaft, die Cola kalt und so verbringe ich den Großteil dieses Tages, auf Rundgängen durch die Umgebung, Boxenstopps in dem Restaurant und der sehr netten, am Ende sogar spannenden Geschichte über Kunsthandel, Betrug und Mord in meinem Buch.
Irgendwann ist der Roman ausgelesen, mein Körper für die Reise präpariert und immer noch genügend Zeit zur Verfügung, ehe mein Bus eintreffen und ich damit abfahren kann. Ich entdecke einen jungen Friseur in einem Verschlag und lasse mir von ihm einen kurzen und interessanten Haarschnitt verpassen. Ich bin nicht unzufrieden, hätte wahrscheinlich jetzt auch gute Aussichten auf eine Nebenrolle, bei einer Neuverfilmung der Name der Rose oder einem Film aus dem Dritten Reich.
Gegen 21:00 Uhr, mein Minibus ist immer noch nicht vorgefahren, dafür der Sammelplatz mit weiteren Reisenden gefüllt, lasse ich mir die Zeitangaben in Afrika erklären. Demnach bedeutet 19:00 Uhr lediglich, dass der Bus weder am Morgen, am Mittag, noch am Nachmittag fährt.
Gegen 22:00 Uhr wird mein Gepäck abgeholt und eine Stunde später sitze ich tatsächlich in einem schwarzen achtsitzigen Hyundai, in dem man mich jedoch mit 10 weiteren Menschen gestopft hat. Ich habe mich diesmal gewehrt, als man mir den Mittelgang anbot. Mein Fensterplatz hinter dem Fahrer scheint mir bequemer. Eine Beinfreiheit, kann ich dennoch nicht feststellen und meine drei Sitznachbarn drücken mir ungemütlich in die Seite.
Anyway … es geht los. Insgesamt werde ich 44 Stunden mit diesem Vehikel und diesen Menschen reisen, einiges sehen und erleben, ehe ich in Conakry ankomme.
Bis bald.
PS: Ich habe mir natürlich sehr lange überlegt, ob ich meine unrühmliche Anekdote mit dem Spülkastendeckel veröffentlichen soll. Aber sie zu gut, um nicht erzählt zu werden und diese Ehrlichkeit bin ich auch dann schuldig, wenn sie mich mal nicht als tollen Menschen darstellt. Ich fühle mich jetzt besser.