Ich erreiche Oldupai – meinen Wallfahrtsort am Samstag den 20 November 2010.
Gegen 07:00 Uhr erwache ich in dem Haus meines Gastgebers und ich richte mich, wasche mich und sehe vor die Tür. Robert Mallya hat Toast für das Frühstück besorgt, seine Frau ist schon unterwegs nach Arusha zu einer Familienfeier. Nun steht er besorgt an dem Jeep der Christengemeinde, denn hier ist ein Kabel an der Batterie lose und behelfsmäßig nicht zu flicken. Mir fällt zu dem Problem auch keine Lösung ein. Wir brauchen ein Ersatzfahrzeug und einen Fahrer, dies würde Geld kosten. Ich sage, dass ich dann halt zahlen müsste und ich denke nach. 30 Kilometer vor dem Ziel, aber welchem Ziel? Ich wollte eine Nacht mit Gott in Oldupai verbringen, daraus wird heute, morgen und die Tage danach sicherlich nichts. Soll ich nun ein Vermögen bezahlen, nur damit ich eine unbefriedigende Zeit an meinem Wallfahrtsort verbringen und beten kann? Ich bin fast gewillt die Pilgerreise an dieser Stelle abzublasen, frage vorsichtig bei Pastor Robert über den Stand der Dinge nach und halte dann aber an meiner Mission fest, denn die Lunch Boxes sind gerichtet und der Fahrer schon unterwegs. Die Pilgerreise ist am Laufen und ich bin froh, dass ich nicht voreilig einen Abbruch erwirkt habe. Hätte ich es wirklich gekonnt? Es gewollt?
Ich zahle für Jeep und Fahrer umgerechnet fast 100 Dollar, gebe dem Pastor Robert ebenfalls ein bisschen Geld für die Verpflegung, dann fahren wir zu dritt los, weiter in das Reservat, zu meinem Wallfahrtsziel – nach Oldupai.
Ich erlebe eine Privatsafari. Das Reservat ist das Paradies der wilden Tiere. Ich sehe in den unglaublichen riesigen und beeindruckenden Krater hinein, sehe dort Herden von Tieren durch die Steppe ziehen. Ich blicke durch das Fernrohr des Fahrers und erkenne Büffel, Antilopen, Giraffen, Zebras und ich sehe Tiere, die ich nicht identifizieren kann. Der Anblick ist wunderschön und friedlich. Aber es ist nicht nur Leben im Krater. Überall wo wir vorbeifahren, stehen nun Tiere an der Straße, vermischen sich wildes Leben und menschliches zu einem Miteinander. Ich sehe Zebras bei den Kühen und Ziegen der Massai stehen, bewundere eine Giraffenmutter und ihr Junges an einer befahrenen Wegkreuzung und lediglich nach Elefanten und Raubtieren halte ich vergeblich Ausschau. Hier ist Eden.
Wir fahren etwas mehr als eine Stunde, dann sind wir an meinem Ziel: Oldupai. Wir halten an dem einzigen Gebäude, welches ein Museum ist und steigen dort aus. Ich habe kein Auge für das Museum, möchte endlich meinen dunklen Monolithen sehen. Jener Felsen, der mir von den Bildern im Internet so vertraut ist. Ich stehe still, der Moment tut es auch. Ich blicke über den Hang, dann sehe ich das Gewünschte, den Ort der mich über eine sehr große Distanz, aus meiner Heimat gerufen hat.
Ich will die etwa zweihundert Meter zu meinem Ziel laufen, denn dort am Monolithen möchte ich zu Gott beten. Ich ein Katholik, möchte an meiner persönlichen „Wiege der Menschheit“ beten, ich möchte an meinen Wallfahrtsort. Robert Mallya, mein neuer Wegbegleiter und Priester der Lutheran Church schildert meinen Wunsch dem verdutzten Reiseführer vor Ort. Sein Name ist Maarufua. Ich darf alleine nicht zu dieser Stelle, aber gegen ein kleines Trinkgeld, ist der Reiseführer bereit mich zu begleiten. Ich stimme dem Vorschlag schnell zu. Ich frage Robert, ob er ebenfalls mitgehen möchte, lade ihn zu einem gemeinsamen Gebet ein. Er lehnt ab, hat vielleicht meinen Wunsch verspürt mit meinen Gebeten alleine sein zu wollen. Sei es, wie es will: Das Schicksal entscheidet, dass ich zusammen mit einem ratlosen Museumsführer gehe. Pastor Robert bleibt mit dem Fahrer zurück. Maarufua geht mir voran, ich folge ihm.
Vor dem Monolithen machen wir ein paar Bilder. Maarufua erzählt mir von den Ausgrabungen, den verschiedenen Erkenntnissen seiner Zunft, denn er ist leidenschaftlicher Geologe. Ich muss für ihn eine Enttäuschung sein, denn ich interessiere mich nur wenig für seine Ausführungen, obwohl ich dieses Ziel über tausende von Kilometer angesteuert habe. Aber ich bin aus anderen Gründen hier. Ich trete auf den Felsen zu, ohne ihm richtig zuzuhören. Er registriert meine Unaufmerksamkeit. Dann gehen wir um den Fels herum und ich finde eine Stelle, wo ich beten möchte. Ich zeige meinem Begleiter, den mitgebrachten Stein vom Berg des Moses und ich zeige ihm das Fläschchen mit dem heiligen Wasser vom Belchen, dass ich auf meiner Pilgerreise für diesen Ort mitgetragen habe. Ich lege den Stein an einen Platz und gieße das Wasser darüber, dann setze ich mich, setzen wir uns. Ich bete, schließe die Augen und öffne sie hin und wieder. Die Zeit vergeht – es sind private Momente. Es sind schöne, friedliche und kraftvolle Momente. Ich erfahre, dass ich mich auf einen weiteren Menschenweg freuen kann und ich spüre, dass keine Lasten mehr auf meinen Schultern ruhen. Ich bin wieder frei. Nach etwa einer Stunde fühle ich mich in Gedanken erlöst, sehe das Ende dieser Pilgerreise erreicht.
Ich spreche mit Maarufua, der die ganze Zeit dicht und regungslos neben mir saß und der mit keiner Bewegung verraten hat, dass er in diesen Gebeten, dass er in diesem intimen Moment mein Schatten und Wächter war. Denn dies war er. Ich möchte wissen, ob er ein Christ ist und wenn ja, von welcher Kirche. Gottes Clou zum Finale: Er ist Muslim. Mein letzter Begleiter ist Geologe, somit auch Wissenschaftler und er ist Muslim. Mein Bruder in der Abrahamischen Ökumene, über den ich viel auf meiner Reise nachgedacht habe. Ich kann, ich muss über dieses Bild lachen. Die Götter mögen Komödien … Es ist für mich ein schönes symbolisches Bild zum Abschluss, welches wir beide hier an dieser „magischen“ Stelle abgegeben haben. Die Schlussszene meines Menschenweges hat Charakter und sie macht mir Hoffnung. Ein christlicher Don Quichotte , der gegen theologische Windmühlen rennt, mit einem muslimischen Sancho Pansa an seiner Seite, dem dies Alles ein Rätsel ist und der dennoch über den Spinner wacht. Wir gehen zurück zu Bruder Robert und ich erzähle ihm, dass mein letzter Weggefährte ein Sohn des Allahs ist. Er ist von dieser Endung ebenfalls überrascht und denkt sichtlich darüber nach. Pastor Robert Mallya hat mich beherbergt, hat mich bis kurz vor mein Pilgerziel gebracht und mich dann in die Arme eines Muslim übergeben, ohne dies zu ahnen. Ich höre Gott lachen, spüre dass es vertraulich und liebevoll klingt.
Danke. Danke für die Reise, danke für das Erreichen des Ziels, danke für meine Helfer und Begleiter und danke für ein weiteres Rätsel in meinem Leben, für ein brüderliches Symbol zum finalen Ende.
Die Pilgerreise ist beendet und ich überreiche feierlich meinem Reiseführer, Geologen und Angestellten von Oldupai das Hinterzartener Fuhrmannshemd von Frau Lickert, welches ich auf all meinen Stationen getragen habe. Ich bitte Pastor Robert, von der Übergabe ein paar Fotos zu machen und nun weiß Maarufua, gar nicht mehr, was ihm wiederfährt. Da kommt ein Weißer aus Deutschland, möchte an einem für Theologen unbedeutenden Ort beten, übergibt dann ein Hemd feierlich wie ein Trikot, schenkt es dem Museum und macht dann auch noch Fotos. Ich habe diese Übertreibung sehr genossen, es war mein persönliches Finale. Ich habe für mich Außergewöhnliches geschafft. Meine Begleiter sind ratlos und auch darüber kann ich lächeln. Ich bin ein Aufschneider, dies gebe ich gerne zu, doch dieser Moment hätte jeden Fanfarenklang verdient. Ich bin glücklich und versöhnt. Mit Gott, der Schöpfung und dem Menschen.
Den Augenblick kann ich nicht lange genießen. Ich muss wieder gehen, denn in knapp zwei Stunden endet hier meine Besuchszeit im Reservat. Nach dem Spiel ist, vor dem Spiel, wie schon Sepp Herberger schlau behauptete. Ich werde wiederkommen, soviel ist gewiss. Ich habe mein geologisches Ziel erreicht, aber ich habe nicht die Nacht mit Gott und meinen Gebeten verbracht. Ich habe meine Mission nur zu einer Hälfte erfüllt und ich spüre, dass ich einen Aufschub erhalten habe. Um hier in Oldupai eine Freinacht zu erstehen, brauche ich mehr Menschenhilfe, vielleicht mehr Geld, auf jeden Fall mehr Zeit. Ich danke dafür, für diesen Aufschub und für die Fortsetzung meines Menschenweges.
Der Fahrer, Bruder Robert und ich steigen in den Jeep. Wir nehmen einen weiteren Fahrgast mit, denn er ist krank und muss zum nächsten Arzt. Dies ist mir recht. Wir fahren zurück nach Ngorongoro, dort laden wir weitere Reisewillige aus dem Reservat ein und ich feiere ein kleines Wiedersehen mit Athumuni, meinem Führer vom Vortag. Er will ebenfalls in die nächste Stadt, um Dinge einzukaufen und seine letzte Nacht des Wochenendes außerhalb des Reservates verbringen. Wir sitzen in dem Jeep, warten an einer Weggabelung und hoffen auf ein Gefährt, dass uns wieder aus dem Reservat bringt. Ich verabschiede mich von meinem Gastgeber und Freund Robert Mallya, danke ihm für seine Hilfe und seinem Beistand, dann kommt ein Lastwagen und ich klettere mit Athumuni Gamba auf die Ladefläche, rausche in wilder Fahrt die Straße durch das Reservat hinab und dann hinaus.
Ich war in Eden – ich habe Schönes erlebt. In der nächsten Ortschaft trinke ich mit meinem Begleiter zwei Bier, dann bringt er mich zu einem Kleinbus der nach Arusha fährt und wir verabschieden uns. Der Menschenweg endet mit weiterer Menschenhilfe. Die Fahrt nach Arusha dauert zwei Stunden und endlich sehe ich Elefanten. Eine Herde steht in den Bäumen neben der befahrenen Straße. Ich blicke mich um, der Bus fährt weiter ohne zu halten. Haben sie nicht gegrüßt?- Sie haben. Irgendwann sind wir da, ich laufe zu meinem Hotel Miami, indem ich mein abgegebenes Gepäck und mein ehemaliges Zimmer erhalte. Es ist bald dunkel und ich gehe noch in staubigen Kleidern in mein Internetkaffee, damit ich Melanie und Freunden die Mitteilungen machen kann, ich sei glücklich, gesund und meine Pilgerreise beendet. Ich wechsele wieder in mein Hotel, esse etwas, trinke Bier, gehe ausgiebig duschen und falle dann früh in mein Bett zu einem schnellen und langen Schlaf. Die Pilgerreise ist zu Ende, nun habe ich noch ein paar Erledigungen vor Ort zu machen, dann aber gibt es nur noch eine Mission für mich. Ich möchte jetzt zurück zu meiner Familie – so schnell wie möglich. Gesund und auf Engelsflügen – so Gott will. Danke Gott.